Richtungswechsel

„Ich bin aber schon über fünfzig“, gibt sie flapsig zurück, und ändert mit der nächsten Drehung die Richtung. Sie kann das Lachen nicht unterdrücken. Es steigt in ihrem Körper hoch, überflutet ihr ganzes Ich und schlägt irgendwo über ihrem Kopf zusammen. Ausgelassen tanzt sie zu den Klängen der Musik. Ab und zu sieht sie den Mann, der versucht hat, mit ihr ins Gespräch zu kommen. „Das ist eine ü40 Party, was machst du hier?“, hat er sie gefragt, im offensichtlichen Bemühen, charmant zu sein. Er sieht nicht übel aus; gross, lächelnde, Augen, imposante graue Mähne, und er bewegt sich ganz selbstverständlich. Ein guter Tänzer, das sieht man auf den ersten Blick. Doch sie mag sich nicht festlegen. Sie will frei sein. Erst kurze Zeit ist sie hier und der ganze Abend liegt noch vor ihr, ja, mehr noch, ihr scheint, ihr ganzes Leben.
Obwohl sie schon über fünfzig ist.

Als der DJ I can’t get no satisfaction von den Rolling Stones auflegt und die anderen Tänzer begeistert mitzusingen beginnen, vergisst sie alles um sich herum. Ihr ist egal, wie sie aussieht, ob sie die richtigen Bewegungen macht, was andere über sie denken; sie ist ganz Rhythmus. Das letzte Mal hat sie vor mehr als drei Jahrzehnten zu diesem Song getanzt. Damals waren ihr die anderen nicht egal. „Es hat auch sein Gutes, nicht mehr jung zu sein“, denkt sie und wieder flutet sie das überschäumende Glücksgefühl wie eine gewaltige Welle. Sie ist Welle und Strand zugleich, eins mit dem Universum, am richtigen Ort, zur richtigen Zeit, im richtigen Körper. Die Welle spült alles fort. Die letzten Jahre, die Zweifel, die Ängste, den Schmerz, die Anstrengung, die es sie gekostet hat, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben.

Nicht alle haben es verstanden, am wenigsten ihr Mann. „Was willst du denn noch?“, hat er gefragt, „du hast ein schönes Haus mit Garten, ein eigenes Auto und keine Sorgen.

I can’t get no satisfaction
‚Cause I try and I try and I try and I try

Sie hat es versucht und sie bereut nichts. Auch wenn sie das, wonach sie sich seit Jahren sehnt, das, was sie nicht definieren kann, obwohl sie weiss, dass sie ohne nicht glücklich sein kann, noch nicht gefunden hat, so scheint es zumindest in erreichbare Nähe gerückt zu sein. Sie ist wieder an dem Punkt angelangt, wo sie mit zwanzig war, als sie bereit war, durch die Tür zu gehen, in die Welt hinaus, ungewiss, was da draussen auf sie wartet, aber der festen Überzeugung, es müsse etwas Grossartiges sein.

Pah – das ganze Gerede vom Schicksal; wie schnell das Leben in anderen Bahnen verlaufen könne, bloss aufgrund zufälliger, unbedeutender Begebenheiten. Nicht mit ihr, nie mehr. In Zukunft wird sie bestimmen, wo es langgeht.

Einige Male noch macht der Grauhaarige einen Vorstoss und einmal setzt er sich gar zu ihr an den Tisch. Doch sie lässt sich auf nichts ein, sie ist noch nicht bereit. Als er ihr, bevor er geht, seine e-Mail Adresse geben möchte, winkt sie ab und lässt durchblicken, dass sie mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht zurückschreiben würde. Nicht festlegen, keine Verpflichtungen eingehen. Sie bestimmt, wohin der Weg führt, kein anderer, und sei er noch so ein guter Tänzer.

Ein wenig später, sie hat noch zu einem letzten Song getanzt, holt sie ihre Jacke, zieht sich die Mütze über die zerzausten Haare und tritt in die kalte Luft hinaus. Noch wärmt sie das innere Feuer, doch es hat zu schneien begonnen und als sie bei der Sihlpost angekommen ist, von wo die Nummer drei direkt zum Klusplatz fährt, ist ihr kalt geworden. Fröstelnd steht sie an der Haltestelle und ihre Gedanken streifen kurz das, was möglich gewesen wäre, wovon sie sich aber bewusst abgewendet hat.

Kürzlich hat sie gelesen, man solle nie vorschnell urteilen, jedem eine Chance geben. Was, wenn das, wonach sie sich sehnt, an ihre Tür geklopft und sie dieselbe nicht geöffnet hat? Nicht einmal einen Spalt breit? Sie legt den Kopf in den Nacken und schaut nach oben, von wo ohne Ende immer neue Schneeflocken auftauchen, immer schneller und schneller, Funken gleich, und sie glauben machen, sie fahre direkt in diesen verheissungsvollen Nachthimmel hinein. „Nein, unmöglich“, denkt sie, „da muss sich das Schicksal schon mehr anstrengen.“

Als der Bus Nummer 31 vor ihr hält, steigt sie kurz entschlossen ein. Statt hier noch weitere Minuten zu frieren, nimmt sie ein zusätzliches Mal Umsteigen in Kauf und überhaupt: Ist es nicht gut, hin und wieder die Routine zu durchbrechen, einen anderen Weg als den geplanten einzuschlagen?

Der Bus ist voll, die Scheiben sind beschlagen. Aus dem Augenwinkel ortet sie einen freien Sitz und setzt sich schnell, bevor ein anderer es tut. Als sie den Kopf leicht dreht, um ihren Mitfahrer zu betrachten, auch er in Winterjacke und Mütze, traut sie ihren Augen nicht.
Es ist der Tänzer, den sie hat abblitzen lassen und noch während sich in ihrer beider Augen erst Erschrecken, dann Erstaunen und schließlich ein amüsiertes Lächeln abzeichnet, setzt sich der Bus in Bewegung.

© Renate Sturzenegger