Es brannte höllisch. Ich versuchte, keinen Laut von mir zu geben und wackelte als Kompensation mit meinen Zehen, auf die ich mich zu konzentrieren versuchte, um dem schmerzhaften Pieks zu entgehen. „Ich weiss – das ist särr unangenähm“, sagte Frau Schwestkova, die Ärztin. Es klang nicht nach Mitgefühl, dafür wirkte sie zu unterkühlt, aber dennoch entspannte ich mich. Sie desinfizierte die Stelle oberhalb meines Schlüsselbeins mit eleganten Bewegungen, die mich an eine Tänzerin erinnerten und als sie das kleine Geschwulst mit einem geübten Schnitt entfernte, spürte ich gar nichts.
„Wenn ich schon mal da bin…“, begann ich zaghaft, zögerte und gab mir dann einen Schubs. „Kann man etwas gegen diese unschönen Lippenfalten machen? Sie beginnen mich zu stören.“ Ich lachte, um zu zeigen, dass ich die Sache nicht allzu ernst nahm, denn die Frage war mir peinlich. Ich wollte nicht allzu eitel erscheinen, obwohl doch gerade das der beste Beweis dafür ist. Doch siehe da, die Augen von Frau Doktor betrachteten mich mit neuem Interesse, ja, leuchteten sie nicht gar ein bisschen?
„Da gibt äs Möglichkeitän, aber ja doch. Man kann die Haut mit däm Laser glätten, abär dabei wird die Oberlippe vielleicht etwas dünner. Die schönsten Ergäbnisse erzielt man mit Botox“, – hier war es, das böse Wort! – man kann dann mit Hyaluron nachspritzen. Tut wäh aber sieht wirklich wundärrschön aus!“. Wohlwollend fuhr sie in ihren Ausführungen fort. Dabei blieb ihr eigenes schönes Gesicht auffallend ruhig und gefasst, obwohl aus ihren Augen nun Blitze sprühten. „Man will natürlich keine Donald Duck Lippä, abär man kann das säärr gut rägulieren. Ein bisschän märrkt man äs natürrlich schon – man kann nicht märr so gut gut mit einäm Strohhalm trinkän.
Eigäntlich gar nicht märr“, präzisierte sie nach einem Moment.
Mir schwante, dass sie nicht bloss aus beruflichem Interesse sprach und allmählich wurde mir klar, warum sie selber so selten lächelte.
„Ich werd’s mir überlegen“, sagte ich, doch mein Entschluss war gefasst. Nicht dass mein Leben an einem Strohhalm hing, aber mein Lächeln ist eins der wenigen Dinge, auf die ich stolz bin.
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„Nu lach doch mal, Kindchen“, pflegte meine Tante Eia zu sagen, „siehste gleich viel hübscher aus!“ Meist brauchte sie gar nichts zu sagen, es genügte schon, wenn sie mich mit diesem strengen Blick anschaute, eine Augenbraue leicht hochgezogen, was ihr ein aristokratisches Aussehen verlieh.
Tante Eia war in meinen Augen steinalt, eine richtige Dame, unverheiratet und sehr stolz darauf. Niemandem wäre es in den Sinn gekommen, sie nicht mit dem damals noch gebräuchlichen Fräulein anzusprechen. Eine wahrhaft jungfräuliche Aura umgab sie, so jungfräulich, dass sie im Ehebett meiner Eltern zu schlafen pflegte, wenn sie bei uns zu Besuch war.
Zu Besuch kam sie regelmässig, vermutlich, um meiner Mutter, ihrer um einiges jüngeren Schwester, unter die Arme zu greifen.
Wir freuten uns immer zweimal. Zuerst, wenn sie kam, unbändig, aber auch, wenn sie wieder ging, erleichtert. Eine Weile noch hing dann ihr Duft in unserer Wohnung. Der Duft nach Kampfer von ihrem Wicks Inhalierstift , den sie sich regelmässig erst ans linke, dann ans rechte Nasenloch hielt, um kräftig daran zu schnupfen und auch der Duft ihr süsslich pudrigen Parfüms, denn sie war von Beruf Avon Beraterin und führte immer allerhand Schönheitsmittelchen mit sich, was mich zutiefst beeindruckte.
Leider führte sich immer auch belehrende Reden und man fühlte sich unweigerlich unzulänglich neben Tante Eia. „Lange Fädchen, faule Mädchen“, bemerkte sie zum Beispiel spöttisch, wenn ich den Faden zu lang abschnitt. Bei Tante Eia lernte ich sticken, stricken und häkeln, lauter Fertigkeiten, die meiner Mutter, die ein Wildfang gewesen war, abgingen. Tante Eia hatte klare Vorstellungen, wie sich eine zukünftige Dame zu benehmen hatte und sie versuchte nach Kräften, die Unterlassungssünden meiner Mutter auszubügeln und mir zumindest die rudimentärsten Benimmregeln beizubringen.
Wie war sie wohl zu ihrem Spitznamen Eia gekommen? Ich habe es versäumt, meine Mutter zu fragen, bevor sie in die Vergangenheit abdriftete und mich immer öfters mit ihrer jüngeren Schwester Annie verwechselte. Sie beide waren die Nesthäkchen der Familie gewesen, verwöhnt von den älteren Geschwistern und unbehelligt von der Mutter, die froh war, die häuslichen Pflichten abgeben zu können und die zwei Kleinen dafür ab und zu mit ins Kino schleppte, dem fortan ihre Leidenschaft gehörte.
Tante Eia hiess eigentlich Maria und war die Älteste gewesen, der die Erziehung der beiden Jüngsten oblag. Lange hatte sie davon geträumt, ins Kloster zu gehen, doch es war immer wieder etwas dazwischen gekommen, zuletzt der zweite Weltkrieg. Einmal war die Gestapo gekommen und hatte sie mitgenommen, ausgerechnet sie, die sich nie für Politik interessiert hatte und sich von Natur aus völlig unauffällig verhielt. Drei Tage hatte niemand gewusst, wo sie war und als sie wieder gekommen war, hatte sie kein Wort darüber verloren, was in diesen drei Tagen geschehen war, so erzählte meine Mutter mit unheilvoller Stimme.
Ich war froh, dass ich erst nach dem Krieg geboren worden war, froh, dass meine Mutter und Tante Eia ihn überlebt hatten, trotz der vielen Bomben, die es auf ihr Haus geregnet hatte, und ich war mit neun Jahren fest entschlossen, auch eine Dame zu werden, so wie meine Tante Eia, obwohl ich mir ein anderes Parfüm wünschte.
Fürs erste lächelte ich also, weil mich das offenbar hübscher machte, was dringend nötig war, und an diesen Grundsatz hielt ich mich während der nächsten Jahre, selbst dann, wenn mir nicht ums Lächeln war. Es öffnete mir so manche Tür, dieses Lächeln, und nicht selten half es mir auch , dunkle Stunden zu überstehen, denn es ist erwiesen, dass sich der physische Akt des Lächelns auch auf die psychische Befindlichkeit auswirkt und man sich besser fühlt, wenn man lächelt. Selbst dann, wenn einem nicht danach ist.
Was mag aus Tante Eia geworden sein? Eines Tages hörten ihre Besuche auf und weil ich gerade mitten in meinen Teenager Jahren und sehr mit mir selber beschäftigt war, insistierte ich nicht, wenn mir meine Mutter auf meine Fragen ausweichend antwortete. Es war zu einem Streit gekommen, meine Mutter hatte sämtliche Kontakte zu ihrer Familie abgebrochen, sogar zu ihrer jüngeren Schwester, die ganz in der Nähe, irgendwo in Zürich lebte und viel später erfuhr ich, dass Tante Eia gestorben war, an Krebs.
Das war einer der Momente, in denen ich nicht lächelte, und ich fragte mich, wie wohl ihre letzten Lebensjahre ausgesehen haben mochten. War sie einsam gewesen? Sie hatte keine eigene Familie gehabt; was, wenn sie ganz alleine hatte sterben müssen? Und was würde sie sagen, wenn sie mich heute sehen könnte? Wäre sie enttäuscht, weil aus mir keine Dame geworden ist? Oder aber würde sie sich darüber freuen, dass ich in eine ganz andere Zeit hinein geboren wurde als sie selber und dass ich ein Leben führen kann, das mich glücklich macht?
Denn ja, ich bin glücklich und weil ich glücklich bin, fällt mir das Lächeln, das mir Tante Eia einst verordnet hat und das so zu ihrem eigentlichen Vermächtnis geworden ist, leicht und so soll es auch bleiben.
Zum Teufel mit den paar Lippenfalten!
© Renate Sturzenegger